Montag, 15. Oktober 2007

Der Mann dem die Welt zu Füssen liegt


Der Mann, dem die Welt zu Füssen liegt

Der Schuh einer Frau, ihr Fuss... Das ist sein ganzes Begehren. Bekenntnisse eines Fetischisten, der in seinem Kopf ein Geheimnis hütet und in einer Dachkammer einen Schatz.

15.10.2007 von Hansjörg Schertenleib

Der erste Anruf kam an einem jener Augusttage, die schon ein wenig nach Herbst riechen, weil morgens dieser kalte Schneid in der Luft liegt, der anzeigt, dass der Sommer bald vorbei sein wird. «Ich muess mit öpperem rede!»

Der Satz war keine Bitte, der Satz war Befehl. Ich gab der Stimme des Mannes vierzig, höchstens fünfzig Jahre. Sie klang dunkel und sonor, aber gleichzeitig war ihr die Aufregung anzuhören. Meine Frage, wer am Apparat wäre, wurde mit langem Schweigen beantwortet. «Ich muss mit einem reden, der mich versteht», machte der Mann und schnaufte schwer. Ich wollte auflegen, als der Fremde den Satz sagte, ganz leise, der mich davor zurückhielt: «Ich bin besessen. Und ich habe Angst vor dieser Besessenheit.»

Natürlich fragte ich Andreas H. schon bei seinem ersten Anruf, warum er ausgerechnet mich ins Vertrauen ziehe? «Weil Sie mich verstehen», antwortete er. Und dann erzählte er mir, dass er meinen Roman «Das Zimmer der Signora» gelesen hatte, der sich mit Sexualität und Fetischismus befasst, und dass er auch meinen Artikel zum Thema High Heels kannte, der vor mehr als zwanzig Jahren in einer Zeitschrift veröffentlicht worden war, und den ich längst vergessen hatte. Vorerst unterhielten wir uns nur am Telefon, meist nachts, als brauche er den Schutz der Dunkelheit. Dann trafen wir uns in einem Restaurant in Zürich.

Nein, ich werde Andreas H. nicht beschreiben. Er möchte nicht fotografiert werden, warum sollte er sich da beschreiben lassen? Er sieht aus wie tausend andere Männer seines Alters auch. Er ist ein Jedermann. In seinem Inneren freilich hat sich über die Jahrzehnte, die seine Obsession nun schon andauert, eine Welt gebildet, entwickelt und schliesslich entfaltet, die gar nicht zu dem unauffälligen Mann passen will. Andreas H. hat einen Schatten, der ihn ängstigt, dem er gern entkommen würde. «Aber das geht nicht. Meine Obsession für Füsse und Schuhe gehört zu mir. Ich muss nur endlich lernen, das zu akzeptieren.»

Womit alles angefangen hat? «Das habe ich mich auch immer und immer wieder gefragt. Ich weiss es nicht. Allerdings haben meine ersten sexuellen Erinnerungen mit Füssen zu tun: Als Kinder haben mein Bruder und ich jeden Mittwoch und jeden Samstag gebadet. Danach durften wir uns zu unserer Mutter ins Elternbett legen, und sie hat uns Geschichten vorgelesen. Mein Bruder hat sich in ihren Arm geschmiegt, ich rollte mich zu ihren Füssen zusammen. Ich erinnere mich, dass ich meine Augen nicht von ihren Füssen lassen konnte und sie angefasst und gestreichelt und dabei sexuelle Lust empfunden habe. Vielleicht ist das der Schlüssel zu meiner Obsession. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass in den Sexheften, zu denen ich mich als Pubertierender befriedigte, sozusagen jede Frau Stöckelschuhe trug.»

Dem Fuss auf den Fersen

Andreas H. (Name geändert) wird 1963 in einer jener Kleinstädte im Aargau geboren, die eine mit viel Geld renovierte Altstadt bieten, die zwar ohne Zweifel zauberhaft ist, aber trotzdem nicht jedem Jugendlichen den Wunsch auszutreiben vermag, so schnell wie möglich in die nächste grosse Stadt zu fliehen. Bei Andreas H. ist es 1984 soweit: Kaum sind Berufslehre als Offsetdrucker abgeschlossen und Füsilier-RS abverdient, zieht er nach Zürich. Dort, «in der Anonymität der Masse», wie er es nennt, gibt er einer Neigung nach, die er schon seit ein paar Jahren in sich gespürt und die ihm gehörig Angst eingejagt hat. In Zürich gesteht sich der 21-jährige Andreas H. ein, dass er Fetischist ist. Dass er Frauenfüsse liebt, über die Masse liebt, dass er verrückt ist nach ihnen, dass er sie anbetet und verehrt. Und dass er besessen ist von den hochhackigen Schuhen, in denen sich eben diese Frauenfüsse vor seinen ungebührlich begehrlichen Blicken verbergen, wenn er sich nach Feierabend und an Wochenenden auf die Jagd macht. Auf die Jagd nach dem Fuss, der für Sekunden aus einem Schuh mit Absatz schlüpft, in einem Tram zum Beispiel, nachdem er die Frau, oder eben vielmehr ihre Füsse, ihre Schuhe, mit schnellem Puls zwei Stunden lang durch die Stadt verfolgt hat. «Damals», sagt Andreas H., «damals hat die Sucht angefangen, die mir bis heute das Leben schwer macht. Die Sucht, die schuld ist daran, dass ich mich hasse und verabscheue.»

Am Anfang streicht er Abend für Abend und Samstag für Samstag durch Warenhäuser und Einkaufscenter, zieht durch die Zürcher Innenstadt und das Niederdorf, immer auf der fieberhaften Suche nach dem Frauenfuss, der sich ihm zeigt. «Der Anblick eines Frauenfusses, zum Beispiel in einem Schuh mit keilförmigem Korkabsatz, genügte. Ich konnte gar nicht anders, ich musste der Frau nachgehen, weil ich den Blick nicht von ihren Füssen und ihren Schuhen brachte. Dann fing ich an, mich in Schuhläden herumzutreiben, halb wahnsinnig vor Lust, die Füsse der Frauen, die da vor mir sassen und in einen Schuh nach dem anderen schlüpften, zu küssen, zu streicheln und zu verwöhnen.»

Andreas H. schneidet sich ein grosses Loch in die linke Tasche seiner Jeans, um sich heimlich selbst Erleichterung zu verschaffen, während er hinter Regalen kauert und Frauen beobachtet, wie sie hochhackige Schuhe anprobieren. «Meist konnte ich verschwinden, nachdem ich mich befriedigt hatte, ohne dass ich entdeckt wurde. Aber manchmal bin ich einer Verkäuferin oder einer Kundin aufgefallen, und es gab ein Riesengeschrei. Drei- oder viermal bin ich auch festgehalten worden, und ich musste mich mit Gewalt losreissen, um freizukommen, weil man mir androhte, die Polizei zu holen.» Nach solchen Vorfällen hält sich Andreas H. jeweils für eine Weile zurück, doch die Lust ist grösser, die Besessenheit stärker als sein Wille, und so macht er sich bald erneut auf die Jagd.

«Am besten gefallen mir Schuhe, die die Zehen frei lassen und am Knöchel mit einem Riemchen gehalten werden; die Absätze sollten nicht höher als zehn Zentimeter sein, sonst wirkt ein Schuh genauso unnatürlich wie der Gang der Frau, die ihn trägt. Offenbar ahnen die meisten Frauen nicht, welche Wirkung sie auf Männer haben, wenn sie aufreizende Schuhe tragen. Aber es gibt sehr wohl Frauen, die das ganz genau wissen. Nur hatte ich nie das Glück, mit so einer Frau zusammen zu sein.»

Etwa zur gleichen Zeit, wie Andreas H. die Schuhläden entdeckt, wird ihm bewusst, dass Garderoben von Turnhallen und Schwimm- und Hallenbädern für ihn Fundgruben sind. Er dringt heimlich in Garderoben ein, und während die ahnungslosen Frauen Baskettball spielen oder schwimmen, beschäftigt er sich mit ihren Schuhen. «Der Duft nach Frauenparfüm, Frauenschweiss, feinem Leder, getragenen Strumpfhosen, Socken oder Turnschuhen brachte mich fast um den Verstand. Ich kam mir vor wie im Paradies! Und die Tatsache, dass es verboten und ganz schön krank war, was ich in diesen Garderoben anstellte, machte die Sache noch aufregender.»

Die Geschichte von Andreas H.s Obsession ist auch die Geschichte eines Leidens an sich selbst, an einem Begehren, das mächtiger ist als er, das sein Leben bestimmt, lenkt und lähmt – und beglückt, auch wenn ihm dieses Glück grosse Scham bereitet. Wie jeder Fetischist verehrt Andreas H. seinen Fetisch, behandelt ihn aber gleichzeitig mit Feindseligkeit und Verachtung.

Wenn die Frau das wüsste

Den ersten beiden Freundinnen, mit denen Andreas H. zusammen ist, gesteht er seine Obsession, getrieben vom Wunsch, sie teilen und vielleicht gar gemeinsam ausleben zu können. Er stösst auf Unverständnis, Ablehnung, Abscheu. Beide Frauen reagieren gleich: Sie fragen ihn aus, «fasziniert und gleichzeitig schockiert», dann verlangen sie angeekelt nach mehr Raum und Distanz, um sich kurz darauf von ihm zu trennen. «Sie waren einerseits fasziniert von dem, was ich ihnen beichtete, wollten aber andererseits nichts damit zu tun haben.»

Danach wird Andreas H. vorsichtiger. «Wenn ich eine neue Freundin hatte, habe ich ihr nach einer Weile ein Paar Schuhe mit Absätzen gekauft, nicht zu hoch, aber doch so, dass sie mich erregten, um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Aber leider habe ich nie eine Frau kennengelernt, die meine Vorliebe wirklich versteht oder sogar teilt. Sie reagierten alle mit Unverständnis und Ablehnung.»

Heutzutage behält er seine Obsession für sich. Er lebt ein Doppelleben, eine Lüge, hält sein Begehren bedeckt und versteckt es, gerade vor der, mit der er doch eigentlich alles teilen will: «Doris, die Frau, die ich 1994 nach vier Jahren Beziehung geheiratet habe, weiss nichts von meiner Obsession. Letztlich hat sie keine Ahnung, mit wem sie verheiratet ist. Ich habe versucht, sie einzuweihen, aber ich habe gespürt, dass sie mich nicht verstehen kann, nie, und darum habe ich mich in meine eigene Welt zurückgezogen. Eine Welt, von der sie nichts weiss. Obwohl sie natürlich spürt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Nur weiss sie nicht genau, was. Darunter leide ich.»

Der Versuch, sich seiner Frau zu offenbaren, ziemlich am Anfang ihrer Liebe, es wunderte ihn nicht wirklich, stiess auf Unverständnis. Doris glaubte, er nehme sie mit seinem Bekenntnis «Ich liebe Frauenfüsse und Frauenschuhe» auf den Arm; sie suchte Zuflucht in einem Lachen, «das ich heute noch im Ohr habe und das für immer einen Keil zwischen uns getrieben hat». Andreas H. liess seine Frau im Glauben, er habe nur einen dummen Scherz gemacht. Und lebt seither ein doppeltes Leben. Als Mann, der als Besitzer einer kleinen Druckerei vorbildlich funktioniert und durch nichts auffällt, ein Mann, in dem gleichzeitig aber ein anderer Mann auf seine Befreiung wartet, einer, der sich nach Frauenfüssen und Frauenschuhen verzehrt, einer, der schier verglüht vor einer Lust, die er mit niemandem teilen kann.

Die Schatzkammer

Auf den Gedanken, die Schuhe zu stehlen, die ihm in Garderoben von Turnhallen und Bädern zur Befriedigung verhelfen, kam Andreas H. vor sieben Jahren. «Nachdem ich das erste Paar mitgenommen hatte, wurde mir auch das zur Sucht. Es ist unbeschreiblich, welche Gefühle ich durchlebe, wenn ich mich mit den Schuhen aus den Garderoben beschäftige.»

Anfangs verstaut Andreas H. die gestohlenen Schuhe in einem Koffer, den er auf dem Estrich versteckt, aber als er vor drei Jahren damit anfing, Frauenschuhe auch zu kaufen, um seinen Trieb zu besänftigen, wurde der Platz knapp. «Zuletzt habe ich drei Koffer mit gestohlenen und gekauften Frauenschuhen auf dem Estrich versteckt. Die Angst, dass meine Frau oder meine Tochter die Koffer entdecken könnten, wurde mir einfach zu gross. Darum habe ich vor etwas mehr als einem Jahr ein Zimmer gemietet, eine Mansarde, von der niemand weiss. Ich wage nicht, mir auszumalen, was meine Frau macht, wenn sie von diesem Zimmer erfährt.»

Andreas H. hat die Mansarde mit deckenhohen Regalen ausgestattet, auf denen er seine riesige Schuhsammlung aufgebaut hat, Schuh neben Schuh, mit dem Lineal ausgerichtet, «geordnet nach Höhe der Absätze, ohne auf Material, Farbe oder Schuhtyp Rücksicht zu nehmen». Bis auf die Regale mit den Schuhen und eine Matratze ist das Zimmer, das noch niemand anders betreten hat denn er selbst, leer.

Wie viele Paar Schuhe besitzt Andreas H.? Die Frage löst ein stolzes Lachen aus: «Hundertelf», antwortet er, ohne nachdenken zu müssen. Sechzig Paare will er in Garderoben gestohlen haben. «Aber damit ist es endgültig vorbei. Es verschafft mir die grössere Befriedigung, die Schuhe zu kaufen. Das Gesicht der Verkäuferin, die vielleicht ahnt, dass ich die Schuhe für mich kaufe und nicht für meine Frau, wie ich behauptet habe, jagt mir Schauer über den Rücken. Stellt sie sich vor, was ich mit den Schuhen anstelle? Der Rückweg in meine Mansarde löst Gefühle in mir aus, die einem Höhepunkt sehr nahe kommen. Ich fahre oft mit dem Zug in andere Städte, um einzukaufen, weil ich keinen Verdacht erregen will. Die Gewissheit, dass die anderen Fahrgäste keine Ahnung haben, was sich auf der Rückfahrt in meiner Tasche befindet, ist fast so erregend wie der Moment, an dem ich die neuen Schuhe in meiner Mansarde auspacke, in die Hand nehme und damit sozusagen entjungfere. Natürlich wäre es einfacher, Fetischmagazine zu kaufen oder mir Filme herunterzuladen. Aber Bilder allein bedeuten mir leider nichts. Sie lassen mich kalt.»

Warum hat mir Andreas H. sein Geheimnis offenbart? Sucht er einen Verbündeten? Einen, der ihm verzeiht? «Ich muss mich endlich dazu durchringen, zu sein, was ich bin. Dadurch würde mein Leben einfacher. Und ich hoffe, es ist ein erster Schritt, dass ich jemandem von meiner Obsession erzählt habe.»

Wie wäre es, wenn er professionelle Hilfe suchte? «Beim Psychiater?», höhnt Andreas H., «manchmal glaube ich, dass ich vor lauter Frust und Scham explodiere. Und manchmal fürchte ich, dass mich meine Obsession irgendwann dazu bringt, richtig zu entgleisen.» Was er mit «richtig entgleisen» meine, frage ich. «Das ist es ja, was mir Angst macht: dass ich nicht weiss, was das heisst, richtig entgleisen.»